Die missbrauchte Solidarität
„Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat seine eigenen Wörter, man wäscht sie nie.“
Bert Brecht, 1920. Hundert Jahre später segelt das Wort „Solidarität“ ungewaschen durch die politische Öffentlichkeit. Das Waschen sollten wir
nachholen. Denn Sprache immer auch Politik. Nietzsche sagte voraus, Machthaber werde künftig derjenige sein, der neue Sprachregelungen verbindlich
durchzusetzen verstehe.
Solidarität ist seit einiger Zeit zu einem mächtigen Euphemismus im Ideenwettbewerb herangereift. Man kalkuliert mit der Applausgarantie – und mit
Entrüstungsgarantie bei Nichtbefolgung. Anwendungsbeispiele gibt es genug: in Deutschland die Steuer nach 1989, die beschönigend „Solidaritätszuschlag“
etikettiert wurde, der sogenannte „Solidarpakt“ zwischen Arbeitgebern und –nehmern, die fehlende „Frauen-Solidarität“, die der Feminismus beklagt und
deshalb die Quote beklatscht; und wer gegen wohlfahrtstaatliche Wucherungen argumentiert, wird mit Verweis auf die Solidarität zurückgepfiffen. Auch
in Gegenrichtung: Ein CDU-Politiker hielt 2003 nichts davon, wenn man 85-jährigen noch künstliche Hüftgelenke „auf Kosten der Solidargemeinschaft“
implantiert. Da wusste er noch nicht, was zu Corona-Zeiten alles möglich ist! Gerade heute lenkt „Seid solidarisch!“ bedenkenlos unser Denken.
„Haltet euch an Hygieneregeln! Bleibt zuhause! Unterlasst alles, damit Menschen nicht sterben und das Personal in den Krankenhäusern geschont wird!“
Lange wurde Solidarität von der Bevölkerung durchweg positiv bewertet. Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Vor allem zwischen dem ersten und
dem zweiten Lockdown äusserte und verhielt man sich zwar öffentlich weitgehend solidarisch, murrte aber zunehmend im privaten Kreise: „Ich kann das
Solidaritätsgerede nicht mehr hören!“ Es war ja auch kaum nachvollziehbar, dass Kunstausstellungen und Gastronomie nach Aussage des
Robert-Koch-Instituts keine Infektionstreiber sind - und trotzdem geschlossen wurden. Begründet wurde es, kaum überraschend, mit Solidarität - und
bewehrt mit Denunziations-Hotlines gegen Solidaritäts-Saboteure.
Nun, was genau ist Solidarität? Die Frage zielt hier nicht auf Begriffsakrobatik, sondern auf soziale Umsetzbarkeit. Hilft der Appell an die
Solidarität, eine zustimmungsfähigere Politik zu machen? Und wenn ja – warum verhalten sich viele Menschen unsolidarisch – offen oder verdeckt?
Der Begriff bedeutet zunächst Zusammenhalt und Unterstützung. Dabei ist Solidarität, schaut man genauer hin, partikularistisch. Solidarität ist
Gruppensolidarität. Sie kann sich nicht auf alle und jeden beziehen, nicht auf die Menschheit, auch nicht auf die Gesellschaft, sonst löst sich der
Begriff ins Grenzenlose auf. Wer sich solidarisiert, tut das mit einer Gruppe gegen Widerstand. Die zweite Bedingung für Solidarität sind gleiche
Gesinnungen, gemeinsame Erfahrungen und entsprechende Ziele. Diese Faktoren stiften Einheit und legitimieren den Aufruf zur Geschlossenheit. Drittens
sind es nicht beliebige Erfahrungen, die der Solidarität vorausgesetzt sind, sondern Benachteiligung, Ungleichheit, Mangel. Konkret also etwa die
Erfahrungen von Afro-Amerikanern, Frauen (wahlweise Männern), Transsexuellen, Menschen unterhalb der Armutsgrenze oder Risikogruppen.
Legen wir diese Kriterien über die Corona-Appelle. Weder werden Gruppengrenzen genannt, die eine allgemeine Menschenliebe pragmatisch einschränken,
noch kann man gemeinsame Erfahrung und Ziele unterstellen - allenfalls das sehr allgemeine Ziel, die Pandemie zu beenden. Zudem soll man offenkundig
nicht deshalb solidarisch sein, weil man besondere Werte teilt, sondern einfach so. Auch die gemeinsame Erfahrung von Benachteiligung trägt den Appell
nicht. Es ist ja nicht klar, wer da hauptsächlich geschädigt werden könnte: Viele oder wenige Menschen? Junge oder Alte? Gesunde oder Vorerkrankte?
Sind wir nur bedroht als Bio-Klumpen, die vor-sich-hin-stoffwechseln? Oder sind wir Menschen mit Würde? Was ist mit den Spätfolgen? Sowohl
medizinischer, ökonomischer wie psychischer Art? Und kaum jemand hinterfragt die mentalen Konsequenzen der Freiheitsbeschneidungen. Solidarität
unterstellt unter Corona-Bedingungen eine Gleichheit, die nicht existiert. Nicht zuletzt deshalb liefert der Appell, die Solidarität über die eigenen
Interessen zu stellen, keine ausreichende Motivation, dies auch wirklich zu tun.
Schauen wir auf die Modalitäten, auf die Art und Weise von Solidarität, so sind das mindestens zwei:
Solidarität ist, wenn wir sinnvoll von ihr sprechen wollen, freiwillig und nicht-reziprok.
Freiwilligkeit ist ihre wichtigste Eigenschaft; aufgezwungene Solidarität ist keine. Das wiegt umso schwerer für die nicht-parlamentarisch diskutierten,
lediglich exekutiv erlassenen Corona-Massnahmen. Wird Solidarität (z.B. gegenüber vulnerablen Menschen) gar als moralische Pflicht ausgewiesen, dann
ist sie vollständig torpediert. Freiwilligkeit die Bedingung ihres moralischen Charakters. Was erzwungen ist, hat keinen moralischen Wert.
Solidarität kann man sich daher wünschen, aber eben nicht einklagen, nicht herbeinötigen, auch nicht einfach voraussetzen. Der Kategorienfehler liegt
offen zutage: Von Solidarität wird gesprochen, aber Gehorsam ist gemeint. Es wird nicht (nur) das nüchterne Befolgen der Corona-Anweisungen gefordert,
sondern diese Forderung wird zusätzlich moralisiert. Warum? Offensichtlich ist dem Gesetzgeber ein Angemessenheitsdefizit der Massnahmen bewusst.
Deshalb scheut er davor zurück, sie konsequent durchzusetzen, verschiebt diese Konsequenz auf die normative Ebene, eben Solidarität. Diejenigen, die
sich nicht an die Corona-Auflagen halten, sind also auch schlechte Menschen. Die moralische Codierung, die mit Solidarität möglich erscheint, überformt
den Politikbereich und wird zur Machtmoral. Dann ist das Opfer schuld, nicht der Henker.
Nicht-reziproke Solidarität setzt Ungleichheit voraus. Sie bedeutet Verzicht eines Menschen, der durch diesen Verzicht anderen Menschen helfen will,
ihre Lage zu verbessern. So können Jüngere zugunsten von Älteren auf Zukunftschancen verzichten; Ältere können zugunsten von Jüngeren auf zusätzliche
Lebensjahre verzichten. Was moralisch höher steht, mag jeder selbst entscheiden. Solidarisch handeln (und nicht nur bekunden) können aber Menschen nur,
wenn sie gleichsam überschüssige Ressourcen haben. Man denke gegenwärtig an die niedergelassenen Haus- und Kinderärzte, die sich für die Durchführung
von Impfungen zur Verfügung stellen und dafür teilweise ihre Praxen schließen. Solidarisch handelt auch jener Impfberechtigte, der anderen Impfwilligen
den Vortritt lässt. Hingegen: Um 09:00 Uhr am Fenster applaudieren ist lediglich bekundete Solidarität.
In der Diskussion um Freiheitsrechte für Geimpfte hört man immer wieder, es sei ein Gebot der Solidarität, Geimpfte nicht zu bevorzugen. Sie hätten
nur Glück gehabt, früher geimpft worden zu sein. Was aber hat ein Nicht-Geimpfter davon, wenn einem Geimpften Freiheitsrechte verweigert werden? Wer
da Solidarität fordert, bekämpft nicht das Virus, sondern die Bevölkerung.
Eingedenk dieser Modalitäten: Was ist der natürlicher Ort der Solidarität? Wo gehört sie hin? In die Familie. Solidarität gehört in den Nahbereich,
dort ist sie unersetzlich. Dort ist Solidarität, das Sprachspiel sei erlaubt, solide. Was aber derzeit mit Solidarität verbrämt wird, ist eine Politik,
die die Gesellschaft nach dem Modell der Familie lenken will, die „große Welt“ den Regeln der „kleinen Welt“ unterwirft. So ist die Solidarität auf den
Hund gekommen: eine rhetorische Moralkeule der Gemeinschaftsseligkeit, die Freiheitsrecht beschneidet.
Jedoch: Unverzichtbar ist Solidarität, wenn sie im Brecht‘schen Sinne „gewaschen“ ist, wenn sie freiwillig ist, nicht-reziprok und im Nahbereich gelebt
wird. Dann ist sie eine der edelsten Tugenden, zu denen wir Menschen fähig sind. Sie ist hingegen zerstört, wenn sie erzwungen wird, wenn sie als
kollektiver moralischer Imperativ, gar als politisches Programm zur Anpassung oder Umerziehung eingesetzt wird. Der Politik geht es mit der moralischen
Codierung der Corona-Massnahmen vor allem darum, das Gespräch zu beenden, Kritik zu unterbinden und Alternativen zu ersticken. Aber das kann sie nur
erfolgreich tun, wenn kein Bürgersinn mehr vorhanden ist, der den Wert der Freiheit über das Leben stellt. Dabei hat das Leben als solches keine
innere moralische Qualität. Es ist Zeit, sich dessen zu erinnern.
Der Verfasser dieser Zeilen ist Dr. Reinhard K. Sprenger als der profilierteste Führungsexperte Deutschlands. 1953 in Essen geboren studierte er
Philosophie, Psychologie, Geschichte, Sport und Betriebswirtschaft in Bochum und Berlin. Nach dem Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien wird
Sprenger wissenschaftlicher Referent beim Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Bei 3M in Deutschland wird er nach Tätigkeiten im Außendienst
Leiter der Personalentwicklung. Außerdem ist er Lehrbeauftragter an den Universitäten Berlin, Bochum, Essen und Köln. Seit 1990 ist er als
selbstständiger Unternehmensberater tätig und zählt heute zu den gefragtesten Experten für Managemententwicklung.
"Wenn ein Managementberater in den letzten Jahren wirklich etwas bewegt hat, dann ist das Reinhard Sprenger."
(Neue Züricher Zeitung)
www.sprenger.com
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