Wissensverlust

Die Bibliothek im ägyptischen Alexandria - das antike Vorbild erbaute Ptolemaios I. Sie verfügte über etwa 700000 Schriftrollen (gierig gesammelt,
ja sogar konfisziert und geraubt), auf denen das gesammelte Wissen der damaligen Welt verzeichnet war. Die Bibliothek schickte Boten mit der Aufgabe, Wissen in Buchstabenform zu sammeln, in alle Länder. Berühmte Texte, wie buddhistische Schriften aus Indien und Dokumente über den Religionsstifter Zarathustra fanden so ihren Weg bis nach Alexandria. Durch die Bibliothek erlangte die Stadt Weltruhm und wurde zu einem kulturellen und geistigen Zentrum der Antike. 300 Jahre nach ihrer Gründung wurde die Bibliothek durch ein Feuer, welches Julius Cäsar zur Vernichtung der feindlichen Schiffe im Hafen entfachte, vollständig zerstört. Kurzsichtige (Eroberungs-) Politik war wichtiger als Wissen. Man sagt, daß die Zerstörung dieser Bibliothek den Beginn der Renaissance (und damit auch den Beginn der Neuzeit) um 2000 Jahre verzögert hat: ein klassischer Fall von Wissensverlust. Das Beispiel demonstriert eindringlich, zu welcher Problematik Wissensverlust führen kann.

Aber sieht es heute denn soviel anders aus? Sicher, ein Großteil des Wissens der Welt existiert (noch) auf Papier. Und das Papier wird auch immer mehr; die Informationsflut ist praktisch nicht mehr zu bewältigen. Ein Spötter hat mal behauptet, die Menge des Wissens verhält sich umgekehrt proportional zur Anzahl der Veröffentlichungen. Wenn man bedenkt, wie wenig von dem, was veröffentlicht wird, praktische Auswirkungen auf unseren Alltag hat, dann dürfte das ganz zweifellos stimmen. Aber wie geht man mit einer derart exorbitant großen Informationsmenge um? Strukturierung bietet sich als Ausweg an. Strukturierung - das waren (und sind es noch) die Bibliotheken. Aber Papier zerfällt im Laufe der Zeit. Und dann? Strukturierung - das ist heute die Auslagerung auf EDV, in Form von Datenbanken.

Aber beugt das einem Wissensverlust wirklich vor? Welche EDV ist denn im Einsatz? Gibt es etwa viele voneinander unabhängige und zudem auch noch zueinander kompatible Systeme (so daß Redundanz gewährleistet ist) oder existieren Monopolstellungen? Diese Frage lässt sich schon mit einem einfachen Blick auf Browsers tatistiken beantworten, denn letztere belegen de facto das Windows-Monopol. Was bedeutet so etwas für das Wissen, wenn der Hersteller eines solchen Systems sich zum Wechsel entschliesst? Wieviel Wissen ist verlorengegangen, als der Wechsel vom DOS zum Windows stattgefunden hat? Die EDV allein scheint demnach auch nicht der Weisheit letzter Schluß zu sein!

Daneben gibt es noch andere Formen von Wissen. Formen, die nirgendwo abgelegt sind und nur mündlich oder handwerklich weitergegeben werden können. Wieviel Wissen um alternative Heilmethoden ist im Zuge des Hexenverbrennungen des Mittelalters verloren gegangen? Und wieviel Wissen geht einem Unternehmen heute noch verloren, wenn es verdiente und langjährige Mitarbeiter entlässt? Wenn es sich dabei genau um den Mitarbeiter handelt, der aufgrund seiner Erfahrung einen Fehler im Produktionsprozeß "riecht" und schon frühzeitig abstellt? Anlagenstillstände und Produktionsausfall sind die Folge. Klar, daß sich sowas auch auf die Bilanzen - und auf Firmenpleiten - auswirkt.

Gleiches trifft für den Mitarbeiter zu, der kreative Zuarbeit für überbezahlte Vorgesetzte leistet. Die "leben" dann zwar von ihm, aber sie betrachten ihn auch als jemanden, der ihnen gefährlich werden könnte - also als vermeintlichen Konkurrenten. Weil er etwas kann, was sie selbst nicht zustande bringen. Also muß der Typ weg. Letztlich jedoch zum Schaden des Unternehmens. Falls Du jetzt glaubst, das sei alles viel zu weit hergeholt, dann lass´ Dir sagen, daß mir einige derartige Fälle persönlich bekannt sind. Die betreffenden Unternehmen habe n pleite gemacht - immer, nachdem bestimmte "Schlüsselfiguren" entlassen worden sind. Und diese "Schlüsselfiguren" entstammten zumeist den unteren Ebenen der Hierarchie.

Was ist daraus jetzt zu folgern? Einiges. Erstmal ist Wissen dezentral organisiert und sicherlich nicht in einer Führungsspitze. Organisiert man es zentral (z. B. durch eine Dokumentationsabteilung), dann hat man einfache und effektive Zugriffsmöglichkeiten darauf. Dann muß aber auch für Redundanz gesorgt werden, denn anderfalls kann alles schlagartig weg sein (siehe den Brand in Alexandria). Sowas kostet Geld und Personal - aus betriebswirtschaftlicher Sicht völlig überflüssige Ausgaben. Wem aber sein Unternehmen am Herzen liegt, dem sei dringend empfohlen, sich diesen "Luxus" zu leisten. Und noch mehr: den verdienten Mitarbeiter behalten - unabhängig vom Alter. Auf echte (!) Teamarbeit setzen, anstelle karrieregeile Vorgesetzte für das zuarbeitende Personal zuzulassen. So etwas erfordert allerdings eine gewisse Voraussicht, ein "Was-wäre-wenn"-Denken.

Dann bleibt letztlich nur noch die Frage zu klären, wie das Wissen abgelegt werden soll. Die GLP- (Gute-Labor-Praxis-) Grundsätze im Anhang I des ChemG (Chemikaliengesetz) liefern dazu erste Hinweise. Benötigt werden Beschreibungen der Prüfverfahren und die Resultate von Untersuchungen, und zwar erstmal auf Papier (das im chemischen Bereich übliche Laborjournal soll hier mal exemplarisch herhalten müssen). Das kann man dann auf EDV übertragen - vorzugsweise in Form von Plattform-unabhängigen Formaten. Dazu bieten sich PDF (z. B. für Scans von Grafiken und Formeln) und HTML (z. B. für Texte) an. Redundanz wird durch Sicherungskopien erreicht. Ein schneller Zugriff auf das Wissen ist möglich, wenn es - wo immer möglich - formell und mit einem Suchalgorithmus versehen abgelegt wird. Dazu müssen Untersuchungsresultate auf mathematisch beschreibbare Zusammenhänge hin untersucht werden.

Die Mathematik (und hier insbesondere die Statistik) liefert dazu praxistaugliche Verfahren. Als Suchresultat wird so eine Formel (ggfs. ergänzt um ein Berechnungsbeispiel) ausgegeben. Damit lassen sich nicht nur alle Zwischenwerte im Nachhinein wieder errechnen oder "Was-wäre-wenn"-Simulationen fahren (welche durchaus zur Optimierung von Rezepturen und Betriebsparametern per Computer heranzuziehen sind), sondern es wird auch und gerade dem Wissensverlust durch Personalfluktuation vorgebeugt. Datenschutz und Datensicherheit sind dabei natürlich obligatorisch.

Auf der Schiene des handwerklichen Wissens wird diese Vorgehensweise jedoch scheitern (müssen). Beim handwerklichen Wissen kann dem Wissensverlust jedoch vorgebeugt werden, indem Teams (echte Teams, nicht zusammengewürfelte und von oben her als "Team" bezeichnete Gruppierungen) eine Aufgabe bearbeiten. Der eine guckt dann dem anderen die Tricks ab. Das funktioniert zwar schon seit vielen Jahrhunderten so, scheint aber dennoch gewissen Kaufleuten nicht ins Bewusstsein gedrungen zu sein. Vielleicht wären letztere auch gut beraten, wenn sie sich deshalb mal mit der Gruppendynamik anstatt mit Zahlen befassen würden. Aber ganz ungefährlich ist das nicht: Es erweitert nämlich den (geistigen) Horizont...



 
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